Der Weltenwanderer - Die Geschichte einer großen Liebe





Es war einmal ein junger Mann, der lebte in einer Welt, die für ihn so war, wie eine Welt zu sein hat. Die Bäume waren so grün wie er sein Grün kannte und der Himmel so blau wie er sein Blau kannte. Er hatte viel Grau in seiner Welt und Grau war ihm sehr vertraut. Seinem Grau hatte er sogar einen Namen gegeben. Es war „Grau 39 99,99,99“. Ein sehr dunkles Grau also. Aber es war seines.

Seine Arbeit war so erfüllend, wie er Erfüllung kannte und die Liebe zu seiner Freundin war so, wie er seine Liebe kannte. Anfangs war da sogar ein kleines bisschen Rosa. Die Liebe macht das Leben etwas Rosa und das war okay.

Er hatte sich noch nicht viel getraut in seinem Leben, aber auch das war so, wie er es kannte. Wenn ihn jemand fragte, wie es ihm ginge, dann sagte er: „Es ist okay.“ Es war okay, doch es war nicht gut. Jedoch hatte er sein Grün, sein Blau, sein Grau 39 99,99,99 und seine Freundin. Er hatte seine Eltern und er hatte seine Freunde. Es war alles meistens okay.

Manchmal merkte er, dass etwas nicht gut war. Dass es nicht mal okay war. Er merkte, dass sein Leben nicht so war, wie es sein sollte und er sehnte sich woanders hin. Er dachte: „Irgendwann, da werde ich anfangen zu Leben. Leben so, wie Leben sein muss. Da werde ich ganz 'ich' sein. Irgendwann, ganz sicher.“ Und dann lebte er weiter in seiner Welt, so wie sie war und es war wieder okay.

Seiner Freundin ging es oft nicht gut. Das tat ihm sehr Leid, aber dadurch wusste er auch, dass er gebraucht wurde. Er hatte Verantwortung für jemanden. Das war gut, denn für sich selber Verantwortung zu übernehmen, das konnte er nicht. Er versuchte alles zu tun, damit es ihr gut ging. Er versuchte es ihr recht zu machen und sie dankte es ihm damit, dass sie ihn liebte, denn sie mochte diese Welt mit dem Grün und Blau, die sie kannten und vor allem mit dem Grau. Es war schließlich Grau 39 99,99,99.

So ging es eine lange Zeit, doch merkte er, dass seiner Welt etwas fehlte. Er wusste nicht, was es war und er suchte es auch nicht, aber er merkte immer deutlicher, dass etwas nicht da war, was da sein sollte. Er hatte immer noch sein Grün, sein Blau und vor allem das Grau 39 99,99,99. Aber etwas hatte sich verändert. Er merkte, dass die Liebe zu seiner Freundin anders wurde. Das Rosa, welches anfangs da war, war verschwunden. Es war einfach weg. Er war in immer weniger Momenten er selber. Das erschrak ihn sehr. Trotzdem war er weiterhin verantwortlich für sie und das war okay, denn das gab Sicherheit und Geborgenheit und das war ihm sehr wichtig. „Irgendwann werde ich Leben, so wie Leben sein muss“, dachte er sich dann wieder und seine Welt wurde wieder okay.

Eines Tages aber passierte etwas, was in seiner Welt nicht passieren durfte. Er lernte eine andere Frau kennen. Diese Frau war nicht Rosa. Sie war Pink. Er fand Pink furchtbar. Pink erinnerte ihn an Kaugummi und Zuckerwatte. Nicht, dass er Kaugummi und Zuckerwatte nicht mochte, aber es war wenig kompatibel mit Grau 39 99,99,99.

Trotzdem passierte etwas, womit er niemals in seinem Leben gerechnet hatte. Als er das erste Mal in ihre Augen sah, da war seine Welt nicht mehr okay, sie war auch nicht gut, sie war so, wie Leben sein sollte. Er suchte nach seinem Grün, doch es hatte sich verändert, und sein Blau leuchtete in einer Intensität, wie er Blau noch nie gesehen hatte. Sie mischte sein Grau 39 99,99,99 mit Ihrem Pink und die Welt, erstrahlte in allen Farben dieser Welt. Doch es war nicht nur das. Je länger sie sich kannten, merkten die beiden, wie sehr ihre Seelen miteinander verbunden sind. Er merkte sehr schnell, dass sie gar nicht wirklich Pink war. Sie war alle Farben und auch sie hatte graue Anteile, denn auch ihr Leben war nicht so einfach gewesen, wie sie nach Außen hin ausstrahlte. Er sagte zu ihr: „Ich habe dich gekannt, bevor ich deinen Namen wusste.“ Und sie sagte: „Ich sehe durch deine Augen direkt in deine Seele.“ Und genau so war es. Sie sah durch seine Augen direkt in seine Seele - und obwohl sie so anders war als er wurde ihr klar, dass er  der Mensch war, den sie ihr ganzes Leben vermisst hatte, ohne sich dessen bewusst zu sein.

Es begann eine wunderbare Zeit. Die beiden ergänzten sich in allen Punkten auf die es im Leben ankommt. Sie waren eins obwohl sie zwei waren. Die Verbundenheit, die sie spürten, war für beide kaum fassbar. Er war in ihr und sie war in ihm. Und doch war es sehr schwer, denn er hatte seine Freundin. Er war doch verantwortlich. Er fing an, sich Vorwürfe zu machen. Seine Freundin brauchte ihn doch. Er fühlte sich wie ein Vater, der seine Tochter im Stich lassen würde und war nicht in der Lage, sich zu entscheiden. Außerdem hatte er doch noch nie im Leben für sich selber Verantwortung übernommen. Was ist, wenn er den ganzen Farben nicht standhalten würde? Was ist, wenn Sie erkennen würde, wie Grau er in Wirklichkeit ist und ihn dann nicht mehr wollen würde? Die Selbstzweifel, Vorwürfe und das schlechte Gewissen erdrückten ihn und er traf die Entscheidung, in seine Welt zurück zu kehren. Ohne Pink, ohne das neue Blau und Grün. Ganz einfach zurück zu seinem Grau 39 99,99,99.

Sie sah ihm dabei zu und verstand ihn. Sie akzeptierte seine Entscheidung und doch wusste sie, er würde wiederkommen, denn so unvorstellbar sich das anhörte, merkte sie, wie seine Seele zu ihrer sprach. Trotzdem litt sie sehr, denn sie spürte den Schmerz des Vermissens körperlich.

Es dauerte nicht lange und auch er merkte, dass er nicht einfach so in seine Welt mit dem Grau 39 99.99.99 zurück kehren konnte. Zu viel hatte sich in ihm verändert. Er hatte sich verändert und er merkte, wie seine Verantwortung und sein schlechtes Gewissen durch die Sehnsucht, die er verspürte, unterging. Diese Sehnsucht wurde immer größer und ließ ihn zu ihr zurück kehren und er versprach sich selber, sie nicht wieder zu enttäuschen.

Er sagte zu ihr: „Die Sehnsucht nach dir ist die Sehnsucht des Lebens nach sich selbst, in mir.“ Sie küsste ihn mit all der Liebe, die sie für ihn hatte und sagte: „Ich verstehe dich und ich liebe dich, so wie du bist. Ich liebe dich, weil du bist wie du bist, nicht obwohl.“ Und er sah sie an, und küsste ihr die Tränen weg, die sie nicht zurückhalten konnte.

Die beiden erfanden die Welt neu. Sie erfanden ihre eigene Welt, die Welt der Fantasie und die Welt der absoluten Vollkommenheit. Immer wieder erkannten beide, dass es ein Wort gibt, für das, was sie erlebten. Dieses Wort war „Glück“. Er fing an zu erkennen was er im Leben wirklich wollte und sie fand durch ihn die Person, die es schaffte, sie aus ihrem viel zu schnellen Leben zu holen. Sie schmiedeten Pläne. Wenn sie zusammen waren, dann konnten sie stundenlang reden oder schweigen. Sie konnten verrückt sein und sie konnten Dinge erschaffen. Wenn sie zusammen waren war ihrer beider Welt perfekt.

Kurz darauf passierte etwas Schlimmes und seine Freundin erfuhr die ganze Wahrheit. Er schämte sich so sehr. Wie konnte er einen Menschen, der ihn so sehr brauchte und für den er so verantwortlich war, so enttäuschen? So war er doch nicht. So wollte er nicht sein und er wusste, jeder den er kannte erwartete, dass er seine Verantwortung einhielt. Er kehrte wieder in sein Grau zurück, doch jetzt war es nicht mehr 39 99,99,99. Es war 33 48,48,48. Es war fast schwarz.

Sie sah stumm zu und weinte leise alle Tränen der Welt. Auch sie hätte ihn gebraucht. Auch sie war nicht so stark, wie sie gerne sein wollte. Aber sie wollte ihn nicht damit belasten. Denn diese Art von Verantwortung aufzuzwingen hielt sie für seelische Erpressung. Nachdem sie genug geweint hatte, hörte sie erneut ihre Seelen sprechen und obwohl sie schwer angeschlagen war, merkte sie, dass es nicht möglich war, ihn aus ihrem Leben zu verbannen. Er blieb weiterhin in ihr.

Obwohl sie eine Zeit lang keinen Kontakt hatten, konnte keiner der beiden die Verbindung trennen. Es war so, als ob ihre beiden Seelen jetzt, nachdem sie sich gefunden hatten, für immer aneinander gebunden waren. So sehr beide versuchten, ein Leben ohne den anderen zu leben, war es nicht möglich. Es ging immer einige Zeit, ohne den anderen im Kopf zu haben, aber trotzdem waren sie gegenseitig immer präsent.

Sie rochen sich, obwohl sie kilometerweit voneinander getrennt waren und sie spürten sich, obwohl sie sich nicht berührten.

Er kämpfte gegen sich und sie kämpfte ebenfalls. Sie versuchte sogar, sich in einen anderen Mann zu verlieben, aber es gelang ihr nicht, so sehr sie es sich auch wünschte. Er versuchte, seine Beziehung zu retten und sich seiner Verantwortung zu stellen, doch es ging nicht. Wenn seine Freundin ihn berührte, dann konnte er es nur ertragen, wenn er sich vorstellte „sie“ wäre es und sie brach, während der andere Mann neben ihr lag, in Tränen aus, weil sie merkte, wie „seine“ Seele nach ihr rief.

Dieses Mal war er es, der die Sehnsucht nicht mehr ertrug. Er wollte sie so sehr. Er wollte es so gerne wagen. Er dachte, er schafft den Schritt hinaus aus seiner Welt, doch sein Mut hielt nicht lange und wieder erdrückten ihn die Zweifel und die Verantwortung. Sie verstand ihn und sagte: „Ich glaube an uns und ich glaube an dich. In den Momenten, in denen du es nicht tust, in denen glaube ich so fest, dass es für uns beide reicht.“ Und er sagte: „Du bist unglaublich.“

Die beiden waren verdammt gut in allem was sie taten. Sie fingen an, mit Dingen, die abseits ihrer seelischen und körperlichen Verbindung zu tun hatten, Erfolg zu haben. Beide wussten, dass sie niemals wieder jemanden finden würden, mit dem sie ihre Sexualität, ihre Träume und ihre Kreativität so teilen könnten wie mit dem anderen. Wenn es so etwas wie einen Seelenpartner gibt, dann hatten sie den in dem anderen gefunden.

Er sagte: „Ich habe das Gefühl ich leben in zwei Welten. Der alten Welt, in der ich viele Jahrzehnte gelebt habe und der neuen, die mir manchmal so eine Angst macht.“ Sie nickte und sagte: „Ich versteh genau, was du meinst, aber wenn Du dein Leben nicht so lebst, wie deine innere Stimme es dir eingibt, dann bekämpfst du das Beste in dir und endest gespalten und wurdest von dir selbst um dein Glück betrogen.“ Er sah sie an und sagte: „Warum verstehst Du nur immer alles?“ Sie sagte erst einmal gar nichts und dachte: „Denkst Du, dass ich keine Angst habe? Denkst Du, dass in dem Moment in dem Du von mir weg gehst, ich nicht weiß, dass Du wieder in deine alte, vertraute Welt eintauchst, die dir so viel einfacher erscheint als die Welt mit mir? Denkst Du wirklich, dass ich hier einfach sitze und nicht den ganzen Tag mit meinen Gedanken bei dir bin, weil ich hoffe dir dadurch Kraft schicken zu können? Denkst Du das tatsächlich?“ Dann sah sie in seine Augen und wusste, dass er alles sehen konnte was sie dachte. Sie lächelte ihn an und sagte: „Ich verstehe dich, weil Du mir näher bist, als jeder andere Mensch auf der Welt, weil Du mich besser kennst, als ich es manchmal tue und weil ich bereit bin, für dich und mich Berge zu versetzen!“

Er blieb diese Nacht bei ihr, obwohl seine Freundin ihn darum bat nach Hause zu kommen. Sie streichelten und liebten sich die halbe Nacht. Am nächsten Tag machte er sich auf den Weg in seine alte Welt und das erste Mal in all der Zeit hat sie ihn um etwas gebeten. Sie weiß nicht mehr, ob sie es sagte, schrieb oder nur dachte:

„Ich hoffe, dass Du es schaffst ehrlich zu sein, ehrlich zu dir und zu anderen. Denn das ist es, was Verantwortung für sich und andere in Wahrheit bedeutet. Ich wünsche mir nur eine einzige Sache. Ich wünsche mir, dass Du niemals wieder dich selber, mich oder andere belügst, was dich und mich verbindet. Ich wünsche mir, dass Du erkennst, was wir beide haben und das das, was mit uns beiden passiert, das größte Geschenk ist, was zwei Menschen bekommen können. Bitte zerstöre es nicht. Das ist meine einzige Bitte nach all der Zeit…“


7 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Du bist total durchgeknallt!

Wie kannst Du SO ETWAS OHNE EINEN WARNHINWEIS einfach veröffentlichen?!?

Das kann sensible Menschen töten! Zumindest fast.
Mich jedenfalls. Einen Moment lang, zumindest.

Diese ganze tiefe Trauer! Dieser Schmerz...

Ich weine.

Wohl doch mehr zart als hart, was?!?


Ulli (zHart)

Wolfgang hat gesagt…

Wow. Was für eine schöne Geschichte. Und so nah an der Wirklichkeit. Ich bin tief beeindruckt.

Stephanie Urbat-Jarren hat gesagt…

Danke sehr...

Anonym hat gesagt…

Danke.

Wolfgang hat gesagt…

Dies ist also die Kurzfassung...
Die Farbverteilung kommt mir sehr bekannt vor, die Rollenverteilung aber nur zum Teil (mathematisch betrachtet ist "aber" dasselbe wie "und").
Habe den Weltenwanderer wieder gern gelesen, diesmal mit etwas anderen Augen als beim ersten Mal, denn auf dem Weg zur Arbeit und in der Mittagspause an der Elbe lese ich zurzeit die lange Version, bin "schon" auf Seite 132. :)
LG Wolfgang

Stephanie Urbat-Jarren hat gesagt…

Danke Wolfgang, ja im Grunde ist es die Kurze Version, wahrscheinlich verstehst du ihn jetzt aber ganz anders, nachdem du alles kennst. Ich bin gespannt was du dann sagts. Du hast es ja fast geschafft:-)

LG
Stephanie

Anonym hat gesagt…

Danke dafür ..bin so ergriffen und tief berührt, dass ich es nicht in Worte fassen kann...wer kann in Worte besser fassen als du ...ich möchte weinen